Die Kraft der Bäume
„Bäume sind Heiligtümer. Wer mit ihnen zu sprechen, wer ihnen zuzuhören weiß, der erfährt die Wahrheit.“ (Hermann Hesse)
Was mich bewegt? Die Suche nach dem, was mich erfüllt, nach dem Platz auf dieser Welt, der für mich bestimmt ist. Äußerlich funktionierend, wurde ich darüber in meiner Seele krank. Eine homöopathische Therapie öffnete mein Herz, so dass ich den Ruf des Schamanismus erhören konnte, der mich zurückführte auf den roten, den indianischen Weg und schließlich zu meinen mitteleuropäischen Wurzeln: in die Kraft der Steine und Bäume, in die Kraft unserer Ahnen.
Bäume und Menschen
Die Geschichte von Bäumen und Menschen in Mythologie und Alltag ist untrennbar miteinander verknüpft. Schon im Alten Testament baut Abraham dem Herrn einen Altar bei einer heiligen Eiche, und verschiedene Völker führen in ihren Mythen sogar die Entstehung des Menschen auf den Wald zurück. So beschreibt der römische Dichter Vergil ein auf den ursprünglich bewaldeten Hügeln von Rom lebendes Geschlecht, das „aus Stämmen und Kernholz“ entstanden sei und angeblich keinerlei Sitten und Bräuche kannte. Dieser Wilde Mann, der von Robert Bly („Der Eisenhans“) untersuchte Archetyp einer ungezügelten, instinktgesteuerten Männlichkeit hat zumindest in Sagen, Dichtungen und Bildern bis heute überlebt.
In der nordischen Mythologie (Edda) erschufen die Götter Mann und Frau aus einer Esche und einer Ulme. Der germanische Gottvater Wotan (nordisch „Odin“) empfing, neun Tage kopfüber am Weltenbaum Yggdrasil hängend, die Zauberkraft der Runen. Der Weltenbaum zieht sich als geistiges Prinzip für eine energetische Achse des Kosmos durch alle Schamanischen Kulturen.
So wie Germanen, Kelten und Slawen hielten alle alten Völker Europas die Wälder heilig. Ihre Heiligen Haine waren für sie natürlich gewachsene Tempel höherer Mächte, Zentren spiritueller Erfahrungen und Wohnorte heilkräftiger Pflanzen und Tiere. Für diese Völker war es unvorstellbar, ihre Götter in geschlossenen Räumen anzubeten oder sie gar auf Bildern mit Menschengesichtern darzustellen. Über den Baumkult der Germanen berichtet Tacitus: „Übrigens finden sie es unvereinbar mit der Erhabenheit des Himmlischen, die Götter in Wände einzuschließen, und sie den Zügen des Menschenantlitzes nachzubilden – ihre Wälder halten sie heilig, und mit Götternamen rufen sie jenes ferne, unschaubare Wesen, das nur ihrer frommen Schauder sieht.“ (Germania X-XIX)
Die Angehörigen des „Stehenden Volkes“, wie Nordamerikanische Indianer die Bäume nennen, sind aber auch unsere nächsten spirituellen Verwandten, und im Baum findet der Mensch sein schönstes Ebenbild: Der Baum im Wechsel der Jahreszeiten symbolisiert unsere eigene Lebensgeschichte vom Werden und Vergehen. Wir bezeichnen Menschen gerne als „stark wie ein Baum“, „gut verwurzelt“ oder „aus gutem Holz geschnitzt“. Vor allem aber stehen Bäume, im Gegensatz zu Tieren, aufrecht und bilden auf diese Weise, wie wir Menschen, eine gerade Verbindung zwischen Himmel und Erde. Es scheint unsere gemeinsame Aufgabe, die über Äste und Blätter (Arme und Haare) aufgenommenen Informationen über unseren Stamm (Körper, Wirbelsäule) in die Erde zu leiten, den Geist damit zu manifestieren und aus dieser Verbindung von männlichem und weiblichem Prinzip etwas Göttliches zu erschaffen.
Mit Bäumen Kontakt aufnehmen
Im Fachhandel findet sich ein großes Angebot an Büchern zu Baumgeistern, -essenzen, -porträts, -karten und -kalendern. Man kann alles nachlesen, was Biologie, Geschichte, Mythologie, geomantische Bedeutung und forstwirtschaftlichen Nutzen von Bäumen betrifft.
Viel spannender, intensiver und vor allem heilsamer für alle Beteiligten ist es jedoch, einen Baum, seinen Charakter und seine Geschichten durch eigene Erfahrung ken-nen zu lernen. Vielleicht so, wie wir als Kinder auf einem Baum herum geklettert sind oder mit ihm geschaukelt und gespielt haben, sofern keine übervorsichtigen Eltern dies ständig verhindert haben. Es ist die ursprüngliche Art des Lernens, im Kontakt und in Resonanz mit dieser Welt, mit unserer Intuition, uns selbst und unserem inne-ren Wachstum.
Wie alles, was lebt, sehnen sich auch die Bäume danach, gesehen, wahrgenommen und berührt zu werden. Verbringe also möglichst viel Zeit, in der Natur, in deiner Stille und mit „deinem“ Baum. Betrachte ihn aus unterschiedlichen Entfernungen, berühre ihn an unterschiedlichen Stellen. Wenn möglich, klettere auch auf ihm herum und sitze in seiner Krone. Schau dir die Rinde an, die Form der Zweige und Blätter, welche Besonderheiten fallen dir auf? Beobachte ihn während der verschiedenen Jahreszeiten. Sei dabei möglichst passiv, empfangend. Nimm alles wahr, mit all deinen äußeren und inneren Sinnen, und lausche auf Botschaften, Worte, Bilder oder Töne, die in dir entstehen. Vergleiche die Botschaften „deines“ mit denen anderer Bäume, ganz in der Nähe oder weiter entfernt. Wie unterscheiden sie sich, was haben sie gemeinsam? Irgendwann werden sich Wesen und Charakter dieses Lebewesens und seiner Bewohner dir offenbaren, und du wirst dieses Wissen niemals wieder vergessen.
Im Folgenden beschreibe ich einige bewährte Übungen und Techniken, mit denen du einen tiefen Kontakt aufnehmen kannst zu einem besonderen, zu „deinem“ Baum. Die Arbeit mit Bäumen ist übrigens besonders gut für Menschen geeignet, die wenig oder keine Erfahrung mit energetischer Arbeit haben. Es stärkt deinen Energiekörper und deine Wahrnehmung, wenn du vor der Arbeit zunächst zur Ruhe, also so weit wie möglich ganz bei dir ankommst. Das kannst du z.B. durch eine kleine Atemmeditation, durch Zentrierung und Fokussierung erreichen. Verzichte im Vorfeld auch auf anregende Getränke und Alkohol.
Räuchern
Das Räuchern ist eine der ältesten Methoden, ein spezifisches Energiefeld aufzubauen, den rituellen Raum zu öffnen und in Kontakt mit der geistigen Sphäre zu treten. In den meisten Schamanischen Traditionen spielt der Rauch als Symbol der Transformation von Materie zu Geist eine besondere Rolle. So rauchen beispielsweise Indianische Heiler die Friedenspfeife (Calumed) oder Mapacho-Zigarre, sibirische Schamanen legen etwas Beifuss auf ein Stück glühende Kohle. Sogar die Katholische Kirche kommt ohne die Schamanischen Traditionen der von ihnen bekehrten Völker nicht aus und hat das Schwenken von Weihrauch in ihre Rituale übernommen.
Ein Rauchopfer freut und nährt Deine geistartigen Helfer. Ruf sie herbei, bevor du einen Wald betrittst bzw. für einen bestimmten Baum räucherst. Du kommst dadurch noch besser bei dir an und stabilisierst dein Energiefeld. Wenn möglich, wende dich als nächstes an den Hüter des Waldes und bitte ihn um Schutz und Begleitung für deine Arbeit. Du erkennst ihn meist am Eingang zu einem bestimmten Wald- oder Landschaftsabschnitt, und es ist wichtig, dich bei ihm vorzustellen und um Einlass und Erlaubnis zu bitten.
In unseren Wäldern, besonders in der Nähe alter Bäume, leben häufig Naturgeister wie Nymphen, Feen, Kobolde und nicht zuletzt der Geist des Baumes selbst, die vielleicht den Kontakt mit dir suchen. Öffne deine Wahrnehmung, sei empfangend und offen für die Energieformen, die sich dir zeigen möchten. Sei immer respektvoll und achte auf einen fairen Ausgleich von Geben und Nehmen, wenn du mit diesen Wesen Kontakt aufnimmst. Du bist dort in ihrem Zuhause und es kann sein, dass sie Menschen gegenüber zunächst misstrauisch und ablehnend reagieren. Und schließlich: Beachte beim Räuchern den Brandschutz!
Reisen
Die Schamanische Reise wurde in den letzten Jahren vor allem durch die Arbeit von Michael Harner und Paul Uccusic aus dem Sibirischen Kulturraum in den Westen zurück gebracht und in einer an die Bedürfnisse moderner Zivilisationsmenschen angepassten Form verbreitet. Reisen zum Krafttier (Unterweltreise) und zum Geistführer oder -lehrer (Oberweltreise) gehören zum Standardrepertoire Schamanischer Seminare. Der oder die Reisende wird dabei in der Regel durch den gleichmäßigen Schlag einer Trommel oder Rassel in einen tranceartigen Zustand versetzt, in dem er seine Reise erlebt – ein wesentlicher Unterschied zu der nicht nur bei unseren germanischen Vorfahren verbreiteten Nutzung psychoaktiver Pflanzen und Getränke.
Reisen in die Mittelwelt führen uns zu den Energiekörpern von Orten oder Lebewesen, die auch in der alltäglichen Wirklichkeit sichtbar sind. Die Überprüfung einer solchen Schamanischen Reise ist einfach – man muss nur anschließend dorthin fahren oder einen Freund anrufen, der dort in der Nähe wohnt.
Eine Schamanische Reise zu deinem Baum hat den Vorteil, dass du sie auch machen kannst, wenn der letzte Zug gerade weg ist oder dein Auto nicht anspringt. Du versetzt dich mit einer dir vertrauten Methode in Trance und reist mit deinem Energiekörper zu deinem Baum. Sag hallo, geh um ihn herum, schau ihn dir genau an, leg deine Hände auf, schau in die Krone – tue alles, was du auch in der alltäglichen Wirklichkeit tun würdest. Vielleicht erfährst du während deiner Reise mehr über den Baum, als wenn du direkt vor ihm stehen würdest, denn manchmal sehen unsere inneren Augen mehr als die äußeren.
Grocken
Mit „Grocken“ beschreibt der Huna-Schamane Serge Kahili King eine fortgeschrittene Form der Schamanischen Reise, nämlich die Fähigkeit, mit einer Substanz oder Energieform eins zu werden, und sie dann, zum Zwecke der Heilung, von innen heraus zu verwandeln. Wichtig beim Grocken ist, dass wir das Muster von etwas soweit annehmen, dass wir uns selbst dafür halten, uns aber gleichzeitig an unser ursprüngliches Muster und den Zweck des Grockens erinnern.
Besuche deinen Baum in dieser oder der nicht-alltäglichen Realität. Versetze dich in Trance und werde zu deinem Baum, fühle dich ganz ein, verschmelze mit seinem Energiekörper. Fühle, wie viel menschliche Energie noch in dir ist und tausche sie nach und nach gegen die Energie des Baumes aus. Wenn du den kleinsten noch spürbaren Wert menschlichen Energiekörpers erreicht hast (King nennt dies „1 % des Schamanen erhalten“), beginne mit deiner Arbeit.
Joiken
Der Joik ist ein mit dem Jodeln verwandter, traditioneller Gesang der Saamen. Mit ihm drücken diese Ureinwohner Lapplands ihre Gefühle für die Natur aus. Mit dem Joik „besingen“ sie zumeist Tiere, die im Leben in der kargen Polarregion eine Rolle spielen, aber auch Naturphänomene wie heilige Plätze oder Bäume. Das Besondere an einem Joik ist, dass er meist spontan, aus einer in diesem Moment tief empfundenen Verbindung mit der Natur entsteht. Man joikt also nicht über etwas, man joikt etwas. Der Sänger wird in diesem Moment zum Tier oder Baum; beide werden eins und finden ihren Ausdruck in der menschlichen Stimme.
Gehe zu einem besonderen Baum, berühre ihn und spüre dich in sein Energiefeld ein. Welches Gefühl entsteht in dir, was verändert sich in dir durch den Kontakt zu diesem Baum? Versuche nun einen Ton zu finden, der deinem Gefühl Ausdruck verleiht. Spüre, ob dieser Ton den Baum erreicht und ob er dir antwortet. Finde eure gemeinsame Frequenz, euren Ton. Lass ein Lied, lass euer Lied entstehen.
Gerichtete Energiearbeit
Während meiner Ausbildung in Cranio-Sacraler Therapie begann ich, Ausflüge zu alten Bäumen in Brandenburg zu unternehmen. Die körperliche Wahrnehmung von Energiefeldern war damals neu und aufregend für mich. Derartig eingestimmt, stat-tete ich einer alten Feldulme einen Besuch ab.
Ulmen sind in Europa wegen des sinkenden Grundwasserspiegels und durch einen Schlauchpilz, der die Versorgungskapillaren der Bäume verschließt, vom Aussterben bedroht. Instinktiv legte ich zur Begrüßung meine Hände auf den Stamm der alten Ulme und begann, mich in sie einzuspüren. Es war faszinierend, den Energiekreislauf dieses alten Baumes zu entdecken und cranio-sacral zu begleiten. Und plötzlich öffnete sich der Schamanische Raum: Vor meinem inneren Auge begegnete mir eine alte, ungekämmte und verwirrte Frau, die schon manches erlebt und bereits beschlossen hatte, zu sterben. „Ich will hier nicht mehr sein“, waren ihre Worte. Ich bin noch eine Weile bei ihr geblieben, habe sozusagen „ihre Hand gehalten“ und durfte manche ihrer Verletzungen lindern. Ich hatte schon immer eine besondere Beziehung zu Bäumen, aber erst in diesem Moment begann ich, diese Beziehung aktiv wahrzunehmen und es entstand der Entschluss, aktiv mit und für Bäume zu arbeiten.
Wir können den Nahrungskreislauf und das Energiesystem von Bäumen mit unseren Sinnen, also ohne technische Hilfsmittel, wahrnehmen. Das wissen alle, die Bäume umarmen oder sich ab und zu in ihrem Schatten ausruhen. Leg deine Hände an verschiedenen Stellen des Stammes auf, lass dich dabei führen, vergiss auch die aus dem Boden hervor ragenden Wurzeln nicht. Welche Muster, Bewegungen, Far-ben, Worte nimmst du wahr? Welche Bilder entstehen in dir? Frag deinen Baum, was du für ihn tun kannst – und tue es.
Ausblick und Aufgabe
Die ausgedehnten Urwälder Europas und damit auch die Heiligen Haine der Alten Völker wurden im Zuge der Christianisierung nahezu vollständig zerstört. Die Rodung des Waldes und die Urbarmachung des Bodens für die Landwirtschaft begleiten die Geschichte unserer Zivilisation und haben zur Kultivierung großräumiger Landschaften und schließlich der Entstehung moderner Wirtschaftsgesellschaften geführt. Gleichzeitig hat diese Entwicklung einen großen Teil unseres kulturellen Erbes, des Erfahrungswissens unserer Vorfahren ausgelöscht. Dieses Wissen aber wird heute angesichts diverser Bedrohungsszenarien für unseren Planeten wieder dringend gebraucht.
Ein ähnliches Schicksal wie unseren Urwäldern droht den in anderen Regionen der Welt teilweise noch intakten Wald-Ökosystemen. Während meiner Arbeit an diesem Artikel ist mir noch einmal deutlich geworden, wie stark eine Veränderung der spirituellen Werte einer Gesellschaft, weg von einer animistischen („alles ist beseelt“), auf Erfahrung und Eigenverantwortung beruhenden Tradition hin zu einem „von oben“ vorgegebenen Glaubens- und Religionssystem auch die alltäglichen Werte und Überzeugungen der Menschen über die Jahrhunderte verändern kann.
Am Umgang einer Gesellschaft mit ihren Bäumen lässt sich vieles über das Verhältnis von uns Menschen zu unseren eigenen „Wurzeln“, zu unserem kulturellen Erbe ablesen. Über Zugänge wie die beschriebenen Rituale, Meditationen und Ge-sänge können wir versuchen, wieder Kontakt aufzunehmen zu den Wäldern und ihren Bewohnern. Wie klingt das Flüstern ihrer Seelen? Welche Geschichten haben sie zu erzählen? Was können sie uns lehren über uns und unsere Geschichte, über unseren Weg? Durch die Arbeit mit Bäumen verbinden wir uns wieder mit spirituellen Traditionen, dem Wissen und der Kraft unserer Ahnen.
Manuel Breuer
Heilpraktiker und Schamanischer Heiler in eigener Praxis in Berlin
Literaturempfehlungen:
Doris Laudert: Mythos Baum, BLV-Verlags GmbH, 2000
Christian Rätsch: Der Heilige Hain, AT-Verlag, 2005
Serge Kahili King: Der Stadt-Schamane, Lüchow Verlag, 1991
Fred Hageneder: Geist der Bäume, Neue Erde, 2004