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Die Angst vor dem Sieg

Immer wieder kommt es vor, dass Sportler in aussichtsreicher Position plötzlich versagen und ihre Chance, den Sieg zu erringen, nicht nutzen. Dieses Phänomen lässt sich bei fast allen Sportarten mit Wettkampfcharakter beobachten.

Beispiel: Ein junger Skirennläufer liegt nach dem ersten Durchgang im Slalom auf Platz 1. Zwei favorisierte Mitbewerber sind durch Sturz oder Fahrfehler aus dem Wettbewerb, haben keine Chance mehr auf den Sieg. „Das gibt´s doch gar nicht, dass ich führe!“ Ungläubig stellt der junge Rennläufer fest, dass er im Falle eines gelungenen zweiten Durchgangs den Sieg in der Gesamtwertung erreichen könnte. Unter anfeuerndem Jubel der Zuschauer beginnt er den zweiten Durchgang, stürzt jedoch nach halber Strecke und gibt auf. Sein anschließender Kommentar: „Ich hab´s doch gewusst, dass das nichts wird!“

Beispiel: Ein Tischtennisspieler führt im 5. und entscheidenden Satz 10:8 und hat zwei Matchbälle. Der Gegner spielt zwei glückliche Bälle und gleicht zum 10:10 aus. Bereits in einigen vorangegangenen Spielen stand es 10:10 und der Spieler verlor das Match. Und er denkt: „Schon wieder 10:10! Ich darf nicht wieder verlieren. Ich muss auf Sicherheit spielen und darf keinen Fehler machen!“ Durch sein Sicherheitsspiel überlässt er nun dem Gegner die Initiative, dieser nutzt seine Chancen zum Angriff und gewinnt. Der Spieler begründet seine Niederlage: „Wenn es 10:10 steht, verliere ich immer!“

Beispiel: Ein junger, aufstrebender Golfspieler hat sich zum ersten Mal für das British Open Turnier qualifiziert. Am ersten Tag spielt er eine 68er Runde und liegt auf Platz 3. Angeführt wird die Konkurrenz von Tiger Woods, der als weltbester Golfer gilt. Am zweiten Tag spielt er 74er und 73er Runden und fällt auf den 60. Rang zurück. Die Zeugen dieses Leistungsabfalls sind sich einig: „Er war dem Druck nicht gewachsen. Er konnte sich nicht vorstellen, mit Tiger Woods zu konkurrieren oder ihn gar zu besiegen!“

Gerne begründet man das Versagen der Sportler mit der wenig differenzierenden Aussage „Er hatte Angst zu gewinnen!“ Doch um welche Form der Angst handelt es sich im Einzelfall? Sind es Ängste, die mit den Folgen des Siegens verknüpft sind? Vielleicht befürchtet der Sportler, die Erwartungen, die sich aus seinem Erfolg ergeben könnten, nicht erfüllen zu können?

Ursachen
Die „Angst vor dem Siegen“ beruht häufig auf inneren Hemmungen, die nur bedingt etwas mit dem Bedrohungserlebnis der Angst zu tun haben. Weitere Ursachen können mangelndes Selbstvertrauen oder Minderwertigkeitgefühle sein. Folgend werden vier Bereiche genannt, die als mögliche Ursachen für die Angst vor dem Erfolg verantwortlich sein können.

1. Das Selbstkonzept als begrenzende Barriere
Ein rigides Selbstkonzept kann die Ursache dafür sein, dass ein Sportler Erfolge ablehnt, weil sie nicht in sein Selbstkonzept passen. „Ich konnte mir gar nicht vorstellen, gegen diesen Gegner zu gewinnen, er spielt doch eine Klasse höher als ich. Klar, dass ich verliere!“ Diese Aussage eines Tennisspielers macht deutlich, dass das Selbstkonzept den Bezugsrahmen dafür bildet, was man sich zutraut, und was nicht. Es ist dafür verantwortlich, ob neue Erfahrungen aufgenommen oder zurückgewiesen werden. Das Selbstkonzept bildet sich aus der Gesamtheit der Erfahrungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens macht. Es enthält alle Fähigkeitsmuster und Selbsteinschätzungen, die sich in der Persönlichkeit entwickeln und einer individuellen Bewertung unterliegen. Die Angst vor dem Sieg gründet bei manchen Sportlern in einem starren Selbstkonzept, dass durch strenge Erziehung und normgebundenes Verhalten verhindert, dass der Sportler Ziele in Angriff nimmt, die eine Erweiterung seines Fähigkeitsspektrums bedeuten würden.

Beispiel: Ein Sportler hat sein Selbstkonzept als Landesligaspieler entwickelt. „Ich bin ein guter Landesligaspieler, hier kann ich jeden schlagen!“ Bei einem Turnier besiegt er einen Gegner, ohne zu wissen, dass dieser einer höheren Spielklasse angehört. Als er nach dem Spiel davon erfährt, reagiert er mit dem ungläubigen Ausruf, „Das gibt`s doch gar nicht, dass ich gegen den gewonnen habe!“ Das nächste Zusammentreffen verliert er. Sein Kommentar: „Ich wusste doch, dass es Zufall war, gegen ihn zu gewinnen!“ Dabei wirkt er weder unzufrieden, noch frustriert, denn nun ist seine private Welt wieder in Ordnung. Er ist wieder in die vertrauten Grenzen seines bewährten Selbstkonzepts zurückgekehrt.

Viele Sportler ordnen ihr Leistungsvermögen einer bestimmten Spielklasse zu. Ihr Selbstkonzept wirkt dann als Rahmen für die Einschätzung von Leistungsaussichten. Die Angst vor dem Siegen stellt in diesem Fall eine mentale Sperre dar, die aus dem begrenzenden Denken der Klassenzugehörigkeit entspringt. Ein Sieg würde nicht dem vorhandenen Selbstkonzept entsprechen. Der unerwartete Sieg des Spielers in obigem Beispiel war mit seinem Selbstkonzept nicht vereinbar. Der Sieg hatte ihn verunsichert. Es waren Ängste entstanden, die mit dem Sieg verknüpften Erwartungen in Zukunft nicht erfüllen zu können. Auch das Beispiel 1 des jungen Skirennläufers passt in diese Erklärungskategorie.

Als Folgen eines starren, unflexiblen Selbstkonzepts können auftreten:
• eingeengte Denkweisen
• starres Festhalten an Altbewährtem
• Verlust kreativer Initiative
• unbewusste Abneigung, sich mit neuen Dingen zu beschäftigen, die das bewährte Selbstkonzept gefährden könnten

Wie der Trainer sich verhalten sollte
• Ermuntern, Motivieren, Zuhören, Hilfen anbieten
• Problem aufgreifen und darüber sprechen, gemeinsam Lösung(en) finden, Zielvorstellungen besprechen und zeitlich einordnen
• Konstruktive Kritik üben, destruktive Kritik vermeiden
• Übergrosse Ernsthaftigkeit vermeiden; Humor behalten, Spaß und Freude beim Training gewährleisten (Mentale Sperren verstärken sich, wenn man zu lange darüber nachdenkt

Wie der Sportler sich verhalten sollte
Nicht im Schema der Leistungsklasse, der Liga oder der Position innerhalb der Mannschaft denken
• Mach dir klar, wozu du fähig bist, bleibe in Gedanken positiv und zielgerichtet
• Spiele nicht gegen die Persönlichkeit deines Gegners. Ein sportlicher Wettkampf darf nicht zu einer zwischenmenschlichen Auseinandersetzung ausarten
• Konzentriere dich darauf, was du tust; denke nicht daran, was du vermeiden sollst
• Vergiss das Ergebnis, denn wenn du ans Ergebnis denkst, kann es sein, dass du in diesem Moment einen entscheidenden Fehler begehst
• Beschäftige dich außerhalb deines Sports mit Dingen, die dir Spaß machen, halte deine Gedanken frei und verhindere ständiges Grübeln über vergangene Fehler oder Ängste vor zukünftigen, schwierigen Aufgaben

2. Traumatische Erfahrungen
Ein psychisches Trauma ist eine die gesamte Persönlichkeit erfassende psychische Erschütterung. Es ist in der Regel auf ein einmaliges, tief greifendes negatives Gefühlserlebnis zurück zu führen, das als handlungsbegrenzendes, hemmendes Erlebnis bewusst oder unbewusst das Verhalten dann beeinflusst, wenn Situationen auftreten, die den Entstehungsbedingungen ähnlich sind.

Beispiel: Ein Fußballer weigert sich, einen Elfmeter zu schießen. „Ich werde nie wieder einen Elfmeter schießen. Durch mein Versagen haben wir im vergangenen Jahr den Aufstieg verpasst!“

Auslöser eines psychischen Traumas können sein:
• das Herunterfallen von einem Sportgerät
• ein Sturz, z.B. beim Skiläufer oder Skispringer
• das blamable Versagen gegen einen bestimmten Gegner
• der Verlust von Anerkennung als Folge einer Niederlage

Kennzeichnend für die psychische Auswirkung ist die Situationsabhängigkeit, d.h., dass der Sportler in Situationen, die der traumatischen ähneln, in Gedanken und Gefühlen in ähnlicher Weise reagiert. Die dadurch aufkommenden Angst- oder Hemmungsprozesse beeinträchtigen nicht nur die offensive Denkweise und die positive emotionale Energie, sie schädigen auch die Bewegungsqualität. Die Bewegungen verkrampfen, Bewegungsrhythmus, -harmonie und -fluss gehen verloren. Wenn ein Spieler denkt, „Jetzt bin ich in der gleichen Situation wie damals. Hoffentlich passiert mir nicht wieder dasselbe!“, verliert er in diesem Augenblick die Leichtigkeit und Lockerheit, die ihn bis dahin ausgezeichnet haben.

Psychische Traumen, die in der Kindheit entstanden sind, können das Denken und Handeln in späteren Jahren begrenzen, ohne dass sich der Sportler der Ängste und Hemmungen, die sein Versagen verursachen, bewusst ist. Natürlich werden nicht alle Sportler durch belastende und traumatische Erlebnisse so nachhaltig in ihrem Verhalten beeinträchtigt. Entscheidend für die Erlebnisverarbeitung ist die psychische Struktur des Sportlers, vor allem seine emotionale Belastbarkeit und seine psychische Widerstandsfähigkeit.

3. Die soziale Erziehung – Der „Fastsieger“
Ob ein Sportler den Sieg um jeden Preis anstrebt, hängt auch von der sozialen Erziehung ab. Bestimmte Kindheitserinnerungen können die Wurzeln unbewusster Versagensängste oder Verhaltensweisen sein. Bei Sportlern, die häufig am Sieg vorbeischrammen, sog. „Fastsieger“, können frühkindliche Erfahrungen die eigentliche Ursache dafür sein, dass sie bei der Auseinandersetzung mit einem sportlichen Gegner unmittelbar vor der endgültigen Siegeshandlung versagen. Sportler, die unbewusst den Sieg meiden, haben oft Angst vor der Reaktion des verlierenden Gegners. Sie versetzen sich in seine Situation und malen sich aus, welche Gefühle und Reaktionen eine Niederlage bei ihm auslösen wird. Dieses Mitgefühl mit dem Gegner kann unbewusst vorhanden sein und über Sieg oder Niederlage entscheiden. Man kann diesen Zustand wie folgt beschreiben: „Ich wünsche mir den Sieg, aber ich möchte nicht, dass mein Gegner verliert!“ Dieses Phänomen ruht in Erziehungsformen, die besonderen Wert auf ethische Prinzipien wie Gerechtigkeit, Mitgefühl, Rücksichtsnahme und Hilfsbereitschaft legen. Eltern achten darauf, dass jede Verteilung gerecht erfolgt, jeder bekommt gleich viel, niemand darf benachteiligt sein.

„Was Du nicht willst, das man Dir tut, das füge auch keinem anderen zu!“ Alles muss betont fair erfolgen, keiner darf sich einen Vorteil verschaffen, der den Anderen nicht zur Verfügung steht. Solch prägende Kindheitserfahrungen können dazu führen, dass man glaubt, nicht gewinnen zu dürfen. Das Unbewusste leistet Widerstand gegen die bewusste Zielsetzung des Gewinnenmüssens. Kommt es doch zu einem Sieg, wird er oft abgewertet, z.B. „Das war nur Zufall!“, „Glück gehabt!“ oder „Der Gegner war halt schwach!“

Die Rolle des Trainers
Der Trainer muss zu dem stehen, was er vermittelt – besonders, was seine ethische und moralische Kompetenz betrifft. Er sollte überzeugend darlegen, dass sich der sportliche Wettkampf dadurch auszeichnet, dass sich die Gegner freiwillig dem Vergleich ihres sportlichen Könnens unterziehen. Im Unterschied zur kriegerischen Auseinandersetzung, bei der es um die Vernichtung des Gegners geht, handelt es sich beim Sport um Spaß am Rivalisieren und den Vergleich sportlicher Fertigkeiten. Deshalb ist der Gegner auch stets Partner, den es zu achten gilt. Die Achtung der Würde des Menschen muss für jeden Trainer das oberste Gebot seines ethischen Denkens sein. Ob es dem Trainer gelingt, auf das ethische Denken und das moralische Verhalten junger Sportler Einfluss zu nehmen, hängt auch von seiner persönlichen Art der Vermittlung ab. Humor, Souveränität, die Relativierung von Niederlagen, freundschaftliches Verhalten dem Gegner gegenüber, verlässliche Zuwendung, die nicht durch Niederlagen beeinflusst wird – all das sind Wege, die dem Trainer zur Verfügung stehen, um den Wettkampfgedanken als ethischen Bestandteil des Sports vorzuleben.

4. Den Sieg wünschen – aber wollen?
Ziel jedes sportlichen Wettkampfes ist in der Regel der Sieg. „Ich wünsche mir den Sieg!“ – Wenn ein Sportler diesen Wunsch äußert, bedeutet das allerdings noch nicht, dass er auch alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel und Wege einsetzt, um den Sieg tatsächlich zu erringen. Wunschdenken ist zunächst eine natürliche Eigenart des kindlichen Denkens. Man wünscht sich etwas, ist aber nicht bereit, selbst aktiv zu werden. Vielmehr verlässt man sich darauf, dass sich der Erfolg mit Glück und Hilfe eines gütigen Schicksals schon einstellen wird. Dem Wunsch zu siegen kann aber auch eine unbewusste Angst vor den Folgen des Sieges entgegenwirken.

Beispiel: Kinder können es z.B. kaum erwarten, dass der Nikolaus kommt. Wenn er aber dann da ist, verstecken sie sich ängstlich.

Beispiel: Ein junger Spieler wünscht sich nichts sehnlicher, als ein Tor zu schießen. Gleichzeitig ist er aber von der Angst befallen, im Falle einer Torchance zu versagen und dem Gespött der Leute oder den Vorwürfen seiner Teamgefährten ausgesetzt zu sein. Er löst diesen Konflikt dadurch, dass er zwar den Ball fordert, sich aber so verhält, dass sich keine günstige Position zum Torschuss ergibt.

Eine erfolgreiche Aktion oder ein Sieg können eine Erhöhung des Erwartungsdrucks nach sich ziehen. Man erwartet vom siegreichen Sportler, dass er auch in Zukunft ähnlich erfolgreiche Leistungen erbringen wird.

Bei Sportlern, die nur über ein geringes Selbstbewusstsein verfügen und unter Versagensängsten leiden, kann der mit dem Sieg verknüpfte erhöhte Erwartungsdruck eine unbewusste Gegenreaktion auslösen. So ist es erklärbar, dass Sportler in unerwarteten Erfolgsituationen in defensive Denkweisen verfallen und damit den Sieg aus der Hand geben. Ähnliche Wirkungen kann auch ein nicht angemessenes Lob haben. Im Unterschied zum Wünschen werden beim Wollen bewusst alle psychischen Kräfte aktiviert, um den Wettkampf zu gewinnen.

„Ich will gewinnen!“ – Mit diesem Satz bringt der Sportler zum Ausdruck, dass er bereit ist, bewusst alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel und Wege auszuschöpfen, um den Wettkampf zu gewinnen. Der Wille schließt die Tat mit ein, beim Wunsch bleibt die Ernsthaftigkeit der Realisierung offen.

 

 

 

Sigurd_Baumann

Prof. Sigurd Baumann
Dipl.-Psychologe, Lehrbeauftragter für Sportpsychologie an der Universität Bamberg, mehrfacher Buchautor
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