Skip to main content

Alle reden von ADS und ADHS, aber wissen wir wirklich, was es ist?

Selbstverständlich kennen auch die meisten inzwischen die Bezeichnung Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit oder ohne Hyperaktivität. Wir nennen sie auch Zappelphilippe und Träumerle.

Aber wissen wir als Normalos (so werden alle Menschen genannt, die nicht AD(H)S´ler sind), wie das ist? Wie fühlt es sich an, in der Haut eines AD(H)S´lers zu stecken. Wir kennen die Symptome, wie Unruhe, Unkonzentriertheit, Aggressionen, u.v.m.. Wir haben sie alle einmal. Daher wurde in der Vergangenheit auch immer wieder die Frage gestellt, ob wir nicht alle AD(H)S hätten, ob das nicht eine „Mode-Krankheit“ wäre oder gar ob wir das nicht überbewerten.

Der Unterschied der Betroffenen zu den Normalos ist, dass ein Normalo diese Symptome von Zeit zu Zeit hat. Sie treten immer mal wieder auf. Bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Aber der AD(H)S´ler hat die Symptome als ständigen Begleiter und ohne unterstützende Begleitung / Behandlung, bzw. ein Umtrainieren hat er auch keinen Zugriff darauf. Das heißt, er ist seinen Symptomen hilflos ausgeliefert.

Doch wie kann ich als Normalo mich wirklich in einen AD(H)S´ler einfühlen? Wie kann ich nachempflinden, wie es in ihm brodelt? Wie verstehe ich, was er fühlt?

Dazu gibt es drei wunderbare Übungen, die ich gerne in Workshops anwende und die immer wieder ein Aha-Erlebnis hervorrufen.

Wie fühlt und äußert sich eine Reizüberflutung?

Ich gebe der Gruppe die Anleitung, dass ich nun einen Text vorlese und dieser Text eine Aufgabe beinhaltet.

Es können nun z.B. ein Fenster geöffnet werden (sehr gut, wenn es draussen richtig laut ist), eine Musikanlage oder ein Radio eingeschaltet werden, jemand aus der Gruppe liest einen x-beliebigen Artikel vor, es können sich auch zwei aus der Gruppe laut unterhalten, oder ... Schaffen Sie unterschiedliche Geräuschquellen. In der Regel reichen zwei bis vier aus.

Nun lesen Sie einen Text laut vor. Suchen Sie sich einen x-beliebigen Text aus, in den Sie eine Botschaft verstecken, wie zum Beispiel: Kommt nun alle nach vorne und gebt mir die Hand. Es sollte sich um eine Aufgabe handeln, die alle Teilnehmer ausführen können.

Lesen Sie dann Ihren Text eine kurze Weile ganz normal weiter.

Sie werden erstaunt sein, wie wenig (in der Regel niemand) Ihrer Anweisung folgen. Es gibt manchmal einige, die die Anweisung hören, sie aber nicht umsetzen können, da sie zu sehr abgelenkt sind,

Besprechen Sie diese Übung im Anschluss. Wichtig ist, dass den Teilnehmern klar wird, dass diese unterschiedlichen „Ablenkungsmanöver“, die in diesem Fall ja von aussen kommen, bei einem AD(H)S´ler in der Regel im Innern vorhanden sind. Und jede kleine Ablenkung von aussen verschlimmert die Situation.

Jeder kann nach dieser Übung ohne Probleme nachvollziehen, wie sich z.B. ein AD(H)S-Schüler in einer Schulklasse fühlt und wie schwer es ist, sich dort konzentrieren zu können.

Was passiert bei unterschiedlichen Botschaften, wie kann es zum Beispiel zu körperlichen Überreaktionen kommen?

Es werden innerhalb einer Gruppe jeweils Dreiergruppen gebildet. Nun übernimmt einer die Vater-, einer die Mutter- und der Dritte die Kind-Rolle.

Geben Sie den jeweiligen „Eltern“ eine Botschaft, die Sie an das Kind weiter geben sollen. Der Vater bekommt jedoch eine andere Aufforderung als die Mutter. Beide Botschaften sollen sich widersprechen, wie zum Beispiel: „Räum dein Zimmer auf!“ sagt die Mutter und der Vater möchte, dass das Kind hilft, den Rasen zu mähen.

Der jeweils andere Elternteil darf aber nichts von der anderen Botschaft wissen – auch das Kind nicht. So wissen alle Beteiligten der Dreiergruppen nichts von dem Vorhaben des jeweils anderen.

Nun starten Sie das Spiel, indem Sie die „Eltern“ auffordern, ihre Botschaft dem Kind nicht nur verständlich zu machen, sondern es dazu zu bewegen, dass es das auch umsetzt.

Beide Elternteile versuchen nun gleichzeitig von dem Kind widersprüchliche Aufgaben. Das Kind darf reagieren. Alle reden und handeln gleichzeitig.

Lassen Sie dieser Übung ausreichend Zeit, auch wenn es sehr laut wird im Raum. Viele „Kinder“ bekommen nach einer Weile körperliche Reaktionen, wie nervöses Trippeln mit den Füßen oder an den Haaren zupfen. Die Kinder werden auch unter Umständen immer aggressiver. Manche werden dem Elternteil nachgeben, das am stärksten argumentiert oder die größte Macht ausstrahlt.

Auch die Eltern reagieren oft körperlich oder werden aggressiv.

Brechen Sie die Übung ab, wenn es zu heftig wird (dabei ist es wichtig, die einzelnen Gruppen im Auge zu behalten, damit es ertragbar für alle Beteiligten bleibt).

Besprechen Sie nun, wie sich die „Eltern“ und die „Kinder“ jeweils in der Übung gefühlt haben, was mit ihnen passiert ist usw. …

Diese Übung macht uns klar, wie oft sich Kinder – und ganz besonders AD(H)S-Kinder in so einer oder einer ähnlichen Situation hilflos fühlen, hin und her gerissen sind und oftmals aggressiv werden, da sie zum Beispiel nicht gehört werden.

Eine eindrucksvolle Übung!

Überforderungs-Übung

Bei dieser Übung werden, wie in der vorherigen Übung, Dreiergruppen gebildet (ebenfalls Vater, Mutter und Kind). Jedoch bekommt nun das Kind ein Anliegen, welches es unbedingt bei seinen Eltern durchsetzen soll. Auch in diesem Fall kennt nur das Kind das Anliegen. Die Eltern wissen nicht, was auf sie zukommt. Diese denken sich eine Tätigkeit aus, mit der sie gerade beschäftigt sind und auf keinen Fall gestört werden wollen, wie zum Beispiel die Steuererklärung ausfüllen oder mit einer Arbeitskollegin telefonieren.

Nun fängt das Kind an, sein Anliegen vorzutragen. Dies kann es entweder zuerst bei einem Elternteil und dann beim Anderen oder aber beiden gleichzeitig vortragen. Auch hier dürfen alle gleichzeitig agieren, also sprechen und handeln. So, wie es in der Realität auch geschehen würde.

Geben Sie der Übung ausreichend Zeit, denn auch hier kommt es oft nach einer Zeit zu körperlichen Reaktionen, aggressiven Handlungen oder Ähnlichem.

Bitte behalten Sie die Gruppen genau unter Beobachtung.

Besprechen Sie im Anschluss mit allen Beteiligten, wie es ihnen ergangen ist.

Diese Übung zeigt uns Eltern, wie wichtig es ist, Aufmerksamkeit, Konsequenz, ruhiges Verhalten usw. vorzuleben. Denn das, was wir von unseren Kindern einfordern, sollten wir immer erst vorleben, bevor wir es von den Kindern erwarten.
Die „Kinder“ in der Übung empfinden oft große Hilflosigkeit.
All diese Übungen sollen uns bewusst machen, wie sehr sich die Dinge verschieben, wenn wir unterschiedliche Blickwinkel einnehmen. Nach diesen Erfahrungen kommt oft die Frage auf, wer hier eigentlich die Aufmerksamkeitsstörung hat. Wir verstehen viel eher, warum der Betroffene in so einer Situation gar nicht anders reagieren kann.

Diese Übungen erweitern auf jeden Fall unseren Horizont, unser Verständnis und unsere Bereitschaft, vielleicht einmal anders zu agieren.

 

Kristina Venus

 

Beiträge auf Heilpraktiker.de